Carcassonne zählt seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Zugleich gilt es als Europas größte und besterhaltene Festungsanlage. Bereits von Weitem ragen die vielen hübschen Türmchen in den Himmel. Alle zusammen erinnern sie eher an das Märchen von Rapunzel als an das düstere Mittelalter.
Längst hat die Filmindustrie Carcassonne als perfekte Filmkulisse erkannt. Unter anderem diente die Festung 1991 für die Außenansicht von Nottingham Castle in Kevin Costners »Robin Hood – König der Diebe«. Schon zuvor hatten die Festungstürme Walt Disney für seine Zeichentrickfilme Schneewittchen und Dornröschen inspiriert. Auch deshalb zählt die Stadt heute zu den wichtigsten Reisetipps in Südfrankreich.
Beim Rundgang durch das Château Comtal lernen wir die spannende Geschichte der Burg innerhalb der Festungsstadt kennen. Hier sind die ältesten Funde der Stadt zu finden, so etwa die Reste eines altrömischen Bads und Fresken, deren Darstellung die Historiker lange Zeit falsch gedeutet hatten. Über unseren Rundgang durch das Château Comtal haben wir einen eigenen Bericht geschrieben.
Nach einer ereignisreichen Woche verlassen wir die Region Midi-Pyrénées und fahren in die Region Languedoc-Roussillon. Gepackt ist schnell, da wir im Zimmer vom Hotel Saint Claire ja kaum etwas auspacken konnten.
Um keine zweite Odyssee durch Albis Altstadtgassen zu riskieren, tragen wir unser Gepäck lieber bis zum Parkplatz. So sind wir schon bald unterwegs nach Carcassonne, unserem ersten Ziel am Canal du Midi.
Die Fahrt verläuft angenehm, auch wenn unser Navi einmal öfter die seltsamsten Wege wählt. Es wird bergiger. Ein erster Ausläufer der Pyrenäen? Wir nehmen eine Passstraße, über die es wieder hinunter ins Flachland und in die Weingegend um Carcassonne geht. Bevor wir dort die Cité besichtigen, wollen wir unser Gepäck im Logis Hôtel l'Etoile loswerden. Leichter gesagt als getan.
Weil irgendwie der Zielpunkt auf die falsche Seite der Hauptverkehrsstraße gerutscht ist, irren wir kurz durch das Industriegebiet, finden dabei aber auch mehrere Möglichkeiten zum Einkaufen. Nach der Extrarunde ist das Einchecken im Hotel zum Glück im Nu erledigt. Auch können wir sofort unser Zimmer beziehen, obwohl es noch früh am Vormittag ist. Sehr nettes Hotel.
Vom Hotel aus brauchen wir eine Viertelstunde bis zur Cité. Carcassonne sieht von der Ferne aus wie ein Ravensburger Puzzle. Erst wenn man näher kommt und das Auto loswerden will, merkt man, dass es eher Freiburg gleicht. Das gilt zumindest mit Blick auf die Parkgebühren, die gerne zehn Euro und mehr kosten.
Spiegeln sich die Parkgebühren in den Preisen der Festungsanlage wider? Wir werden es sehen. Was wir aber sofort sehen: Carcassonne ist der Anziehungspunkt für Touristen. Bereits beim Porte Narbonnaise versammeln sich mehrere Gruppen und warten die ersten Gäste auf die Abfahrt der »Muson River 1894«-Bahn.
Begrüßt wird hier jeder Gast von der Dame Carcas, der Namensgeberin der mittelalterlichen Festungsstadt und Gattin von Ballak, dem König der Sarazenen. Über die Dame Carcas hören wir eine Sage, die so manch einem bekannt vorkommen wird. Dieser zufolge hatte Karl der Große die Stadt monatelange belagert. Als der König Ballak zu Tode kam, übernahm Carcas die Herrschaft. Die Lage schien aussichtslos. Doch da kam ihr die glorreiche Idee, das letzte Schwein der Stadt mit Getreide zu mästen und den Feinden vor der Burgmauer vor die Füße zu werfen. Der Bauch des armen Schweins platzte auf und den Belagerern quoll das viele Korn entgegen.
Entnervt wegen der unerschöpflichen Vorräte der Stadt, wollte Karl von dannen ziehen. Doch Carcas ließ als Zeichen ihrer Bereitschaft zu verhandeln die Trompeten blasen oder, wie es in Frankreich heißt, klingen (franz. sonner). Von da an hieß die Festung Carcas sonne. So heldenhaft die Geschichte auch sein mag, so trägt sie doch einen Schönheitsfehler: Karl der Große hat die Stadt niemals belagert. Und die Idee mit der Tiermast gibt es überall in Europa. In unserer Heimatstadt Waldshut war es ein gemästeter Schafbock, der auf der Stadtmauer spazieren geführt wurde, um ein Schweizer Heer zu beeindrucken.
Auch wir wollen uns märchenhaft verzaubern lassen und starten mit einer Umrundung der Cité zwischen den beiden Festungsmauern. Carcassonne besitzt einen zweifachen Verteidigungsgürtel mit insgesamt 38 Türmen. Während der innere und höhere Ring bereits auf die Römer zurückgeht, entstand der äußere Ring erst im 13. Jahrhundert. Die 112 Häuser, die im frühen 19. Jahrhundert hier standen, mussten den Sanierungsarbeiten des Architekten Viollet-le-Duc weichen, da der mittelalterliche Originalzustand rekonstruiert werden sollte.
So spazieren wir heute durch den »Les Lices« genannten Zwinger zwischen den Mauern, einem »aussichtslosen« Niemandsland. Die Stadtmauern zu betreten ist nämlich wegen der Absturzgefahr strengstens verboten. Nur an wenigen Stellen ermöglichen zugängliche Aussichtsflächen einen Blick auf die Unterstadt von Carcassonne. An diesen exponierten Stellen zieht es dann wie Hechtsuppe und weht es uns fast von der Mauer hinunter, sodass wir uns tatsächlich die meiste Zeit zwischen den beiden Mauern aufhalten.
Etwas zerzaust durch die heftigen Böen verlassen wir die Les Lices und gelangen durch einen Durchlass zur Basilique Sainte-Nazaire. Bis zum Jahre 1803 war sie die Kathedrale von Carcassonne. Dann wechselte der Bischofssitz in die Unterstadt von Carcassonne. Mit ihren bunten gotischen Glasfenstern ähnelt die Kirche der Pariser Sainte-Chapelle.
Von der Basilika aus erkunden wir die mittelalterlichen Gassen mit ihren romantischen Plätzen und Fachwerkhäusern. Wir befinden uns knapp in der Nebensaison. Das hat vielleicht den Nachteil, dass jetzt keine Ritterspiele stattfinden. Dafür können wir uns ohne den zur Hauptreisezeit enormen Besucheransturm auf eine kleine Zeitreise begeben.
Nur wenige Gebäude sind in der Cité bewohnt. Zu groß ist der sommerliche Trubel, als dass dies viele Leute auf Dauer aushalten würden. Wer hier wohnt, geht irgendeiner Kunst nach oder genießt einfach nur das Leben und Sein. Möglich ist dies vor allem für diejenigen, die Teile ihres Hauses an Läden oder Restaurants vermietet haben und allein damit gut Kasse machen. Doch auch wenn die gesamte Cité ausschließlich auf Touristen ausgerichtet ist, sind die kleinen Läden edel eingerichtet und fügen sich gut ins Stadtbild ein.
Leider schlägt sich eben dieser Luxus in den Preisen nieder. Wir suchen ein kleines Café auf und zahlen für eine Mini-Quiche satte sieben Euro. Da nutzt es auch nichts, um mehrere Ecken zu spazieren, um einen günstigeren Laden zu finden. Wobei wir allerdings gestehen müssen, um so viele Ecken gelaufen zu sein, bis wir am Ende wieder nur einen Katzensprung vom Haupteingang entfernt waren…
Wer sich allein auf die Cité konzentriert, hat seinen Rundgang relativ schnell absolviert. So sind wir bald am Überlegen, ob wir auch das Château Comtal besichtigten sollen, wenn wir schon einmal in Carcassonne sind. Bekräftigt werden wir durch einige andere Besucher, die wir oben auf der mittelalterlichen westlichen Stadtmauer herumlaufen sehen.
Das wollen wir auch. Doch der Zugang ist laut der Touristinformation nur über das Château möglich. Wenig später erfahren wir, dass für uns eine »Visite guidée« gebucht ist und wir erwartet werden. Super! Damit war unsere bereits daheim getätigte Anfrage erfolgreich, auch wenn uns die Antwort nicht mehr erreicht hatte. Wie auch immer, wir sind auf dem Weg zum Château.