An Lourdes scheiden sich die Geister. Für die einen ist es ein Ort voller Wunder und der Besinnung. Andere sehen darin eher eine Art Disney World für Katholiken. Was uns hierher zieht? Natürlich die Neugierde. Meine Oma ist nur selten gereist. Zu ihren wenigen Zielen zählte Lourdes.
Ich erinnere mich noch heute daran, wie sie mit leuchtenden Augen von dieser Reise zurückgekommen war. Mein evangelischer Lars erklärt dies auf seine eher profane Art: »Ja, bei dem vielen Weihrauch müssen einem die Augen leuchten.« Oder meinte er nicht eher »brennen«? Es ist schon eine besondere Atmosphäre, die dieser seltsam wirkende Wallfahrtsort versprüht.
Was diesen entlegenen Ort so seltsam macht? Nun ja, noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts interessierte sich kein Mensch für Lourdes. Es war ein beschauliches Pyrenäendorf wie so viele andere auch. Die oberhalb des Flusses Gave de Pau steil aufragende Festung wurde damals noch als Etablissement für Kriminelle genutzt. Daneben gab es nichts, was einer Erwähnung wert wäre. Am 11. Februar 1858 änderte sich dies. An dem Tag erschien der armen und kränklichen 14-jährigen Bernadette Soubirous beim Holzsammeln die Mutter Gottes.
Es war die erste von insgesamt 18 Erscheinungen, die bis zum 16. Juli 1858 für diesen Ort dokumentiert wurden. Als himmlisches Beiwerk der ersten Marienerscheinung entsprang in der Grotte Massabielle die heute weltberühmte Quelle von Lourdes. So zumindest lautet die offizielle Version der katholischen Kirche. Ob dies so stimmt, sei mal dahin gestellt. Unstrittig hingegen ist, dass die Verbindung aus Erscheinung und heiliger Quelle der Kirche am meisten nützt. Mit dieser Erkenntnis stellten die zunächst kritischen Kirchenvertreter ihre Versuche ein, die Menschenaufläufe in Lourdes zu verhindern.
Die Vermarktung des »Heiligen Wassers« wurde fortan zum Mittelpunkt des Ortes und das Wunder wirkte. Die Pilgerscharen ließen nicht lange auf sich warten. Mangels Infrastruktur folgten zunächst überwiegend Pilger aus der Region dem Ruf des Wassers. Mit dem Anschluss an die 1867 fertiggestellte Bahnlinie von Toulouse nach Bayonne und der Eröffnung des Flughafen Tarbes-Lourdes-Pyrénées nahmen die Pilger jedoch immer weitere Wege auf sich, um nach Lourdes zu gelangen.
Mittlerweile belegt Lourdes bei der Anzahl der Gästeübernachtungen den zweiten Platz in Frankreich, gleich nach Paris. Ein Gebäude in Lourdes zu besitzen, gleicht bei sechs Millionen Übernachtungen einer Goldgrube. So beherbergt heute so ziemlich jedes Haus von Lourdes ein Hotel oder sonstige Schlafmöglichkeit, während in den unteren Räumen meist Devotionalien und Souvenirs feilgeboten werden.
Ganze Heerscharen an Kranken erhoffen sich Heilung durch das Quellwasser. Sie bringen aber auch Arbeitsplätze in den Wallfahrtsort. Allerdings fühlt es sich schon eigenartig an, wenn man diese vielen Krankenschwestern in den Gassen sieht. Viele leben direkt vor Ort, andere begleiten die Kranken hierher.
Da sie eine nonnenähnliche Kluft tragen, bietet sich uns ein seltsames Bild, wenn wir die Frauen auf ihren Smartphones herum tippslen sehen – und sie dazu noch eine Fluppe im Mundwinkel hängen haben. Es wirkt ordinär; klingt jetzt nicht nett, ist aber so.
Zum Glück erreichen wir rechtzeitig das Zentrum von Lourdes, sodass wir bis zum Hotel nahe der Sanktuarien heranfahren können. Denn gegen Abend sind die Altstadtgassen für den Autoverkehr tabu. Allabendlich werden schwere Betonsperren in den Weg gestellt, sodass sich ja keiner mit seinem Wagen dran vorbei schummelt.
Das macht auch Sinn. Die Gassen sind bei unserem ersten Bummel entlang der vielen Kitschläden zwar noch leer. Doch kurz vor fünf Uhr strömen hier auf einmal Scharen von Menschen durch. Ihr Ziel ist die Prozession der Kranken, welche auch wir am ersten Tag in Lourdes besuchen.
Bei den Eingängen zu den Sanktuarien herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen. Taschen und Rucksäcke werden kontrolliert, wenn auch nicht allzu gründlich. Kaum haben wir diese erste Hürde genommen, versperrt uns ein langes Seil den Weg zum Vorplatz der Kirche. Ähnlich wie bei den Autosperren gibt es nun auch für Fußgänger kein Durchkommen. Anstelle des Betons reichen hier allerdings die Blicke der Ordner. Ja, wer auf Wunder hofft, muss sich mit dieser Strenge von Lourdes arrangieren. Bald nach unserem Eintreffen kommt der Prozessionszug mit den vielen Rollstühlen an uns vorbei gerollt.
Es ist unglaublich, wie viele Menschen diesem Kult frönen. In ihren Augen spiegeln sich Hoffnung, Trauer, Verzweiflung und hin und wieder auch etwas Glück. Vor uns erhebt sich eine junge, gehbehinderte Frau aus ihrem Rollstuhl und quält sich die letzten Meter zur Kirche aus eigener Kraft. Wir schauen uns an und müssen beide das Gefühl erst einmal herunter schlucken, das uns jetzt berührt. Der Anblick der jungen Frau schmerzt in der Seele. Wir dürfen uns glücklich schätzen, auf dieser Seite der Schnur zu stehen.
Aufnahmen der Prozession der Rollstuhlfahrer und Kranken in Lourdes. Während der Pilgersaison wiederholt sich dieses traurige Bild hoffnungsvoller wie verzweifelter Menschen tagtäglich.
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