Bei andauerndem Hochnebel brechen wir am nächsten Morgen in den Yosemite Nationalpark auf. Als wir Fresno und das kalifornische Zentraltal hinter uns lassen, wundert sich dieses Mal keiner über das sonnige Wetter, das uns in den Bergen erwartet.
Im Gegenteil, herrscht bei der Fahrt erst angespannte Vorfreude auf das tolle Bergwetter, sind wir dann alle erleichtert, als wir über uns den tatsächlich strahlend blauen Himmel sehen. Damit scheint sicher: auf uns wartet der nächste wunderschöne Tag in Kalifornien.
Auf der Fahrt über den Highway 140 zum Yosemite Nationalpark weisen uns Schilder darauf hin, dass die Zufahrt für Fahrzeuge mit einer Länge über 45 Fuß (13,7 Meter) nicht erlaubt ist. Den Grund sehen wir erst 20 Meilen weiter, als wir den Merced River über eine schmale Eisenbrücke überqueren. Es ist eine von zwei Behelfsbrücken, die nach einem Erdrutsch errichtet wurde, der die Straße verschüttete. Zwar hatte man versucht, die Straße nach dem Erdrutsch zu räumen, weil ständig neues Gestein von oben nachrutschte, hatte man die Versuche dann aber eingestellt.
Eine Alternative dazu wäre gewesen, den Hang professionell zu sichern und erst dann das lose Material beiseite zu schaffen. Na ja, vielleicht lernen sie es ja es irgendwann. Denn so kann es an schönen Wochenenden durchaus eine Dreiviertelstunde dauern, bis man die Brücke überqueren darf.
Bis die zwei Brücken und die neue, schmale Straße zwischen ihnen überhaupt befahren werden konnten, verging zudem so viel Zeit, dass die Hotels und Restaurants im Park in finanzielle Not geraten wären, hätten nicht Hilfszahlungen vom Staat erhalten.
Noch bevor wir den Nationalpark erreichen, halten wir beim Merced River. Vor der Kulisse des eisig-blau aussehenden Wassers und den majestätischen Felswänden der Berge direkt vor uns ist es Zeit für einen ersten Fotostopp.
Und: es ist Zeit, in der klaren Bergluft tief durchzuatmen, sich ein wenig die Füße zu vertreten und vor allem die neblige Tristesse des Zentraltals aus dem Kopf zu bekommen.
Bei der Einfahrt in den Yosemite Nationalpark erklärt unser Reiseleiter, dass der Verkehr hier über Einbahnstraßen geregelt wird. Das heißt: Wer einen der Aussichtspunkte mit Parkmöglichkeit verpasst, muss unter Umständen ein paar Meilen weit fahren, bis er dort wieder hinkommt.
Dass die Regelung dennoch Sinn macht, sehen wir wenige Meter nach dem Kassenhäusle. Es sind zwei Felsen, die sich oberhalb der Straße berühren und nur so viel Platz lassen, dass ein Bus zwischen bzw. unter ihnen hindurch kommt.
Wer individuell in den Yosemite Nationalpark fährt, steuert am besten den Zentralparkplatz vom Curry Village an. Von dort kann man mit dem im Eintrittspreis inbegriffenen Shuttle Bus auf dem Rundkurs zu allen wichtigen Punkten im östlichen Teil des Parks fahren. Eine lange Wartezeit ist übrigens gleichzusetzen mit »wenig los im Park«. Denn die Frequenz der Busse richtet sich nach dem Besucheransturm.
Mit dem eigenen (Rundreise-) Bus im Park unterwegs, brauchen wir uns darum nicht kümmern, sondern fahren nach der schönen Strecke entlang des wild rauschenden Merced Rivers entspannt hoch zum Tunnel View. Benannt ist der Aussichtspunkt nach dem Tunnel, durch den die Wawano Road vom Yosemite Tal hoch nach Chinquapin und weiter über in den Süden des Nationalparks führt.
Beim Tunnel View angekommen, müssen wir aufpassen. Denn wie im Kings Canyon Nationalpark herrschen auch hier winterliche Verhältnisse, sodass der Schnee bei der Aussichtsplattform durch die vielen Besucher so verdichtet wurde, dass wir stellenweise wie auf Glatteis laufen. Sehen wir es positiv: zwischen den Parkplätzen und der Plattform stellt zusammen geschobener Schnee für andere eine schier unüberwindliche Barriere dar, sodass es jenseits kein Gedränge gibt.
Denn die Sicht ist echt der Hammer! Während sich weit unter uns im Yosemite Tal ein dichter Nadelwald breit macht, entdecken wir auf der linken Seite einen Wasserfall wie aus dem Bilderbuch. Vor uns reihen sich die schneebedeckten Gipfel des Grizzly Peak, Mount Broderick, Half Dome und Liberty Cap auf, während auf der linken Seite die gewaltige Steilwand El Capitan das Bild beherrscht.
Wir bleiben einige Minuten lang vor dieser malerischen Kulisse. Immer wieder lassen wir unsere Blicke über die Landschaft schweifen. Schon allein, dass ein so weitläufiger Talboden trotz allen menschlichen Wirkens als dichter Wald erhalten blieb, wäre bei uns daheim undenkbar. Genauso, wie die Tierwelt, die man hier inklusive der potenziell gefährlichen Berglöwen,
bis heute erhalten und für die Nachwelt unter Schutz gestellt hat. Wie im Zion Nationalpark, wie beim Bryce Canyon und dem Grand Canyon packt Annette und mich abermals die Wanderlust. Ob wir Gelegenheit für wenigstens eine kurze Wanderung bekommen? Schauen wir mal.
Vom Tunnel View zurück ins Yosemite Valley gefahren, halten wir beim Bridalveil Creek. Unser Reiseleiter schätzt, dass wir etwa fünf Minuten bis zum Bridalveil Falls (Brautschleierwasserfall) und zurück brauchen, drei vielleicht für den Hinweg.
Er hat die Rechnung ohne den Weg und vor allem ohne unsere Entdeckungs- und Abenteuerlust gemacht. Denn von der Straße bis zur Aussichtsplattform sind es immerhin 0,4 Meilen über einen verschneiten Wanderpfad.
Während für uns bei einer nahen Brücke klar ist, dass wir weit mehr Zeit brauchen als vorgegeben, endet für andere Teilnehmer unserer Gruppe der Spaziergang eben dort. Denn die letzten Meter zur Brücke sind so glatt, dass man sie mit Halbschuhen oder Freizeittretern nur mühsam meistert.
Auch wir müssen trotz Wanderschuhe aufpassen, um auf der Schneedecke nicht auszurutschen. Bis zu einer Biegung, wo der Weg zur Aussichtsplattform abzweigt, kommen wir jedoch ohne Probleme voran.
Genau ab da wird die Sache haarig. Durch die vielen Besucher ist die Schneedecke fest getreten und durch die Gischt des Wasserfalls nahezu spiegelglatt. Während es einem Mann weiter oben die Füße wegreißt und er haltlos zurück rutscht, weichen wir auf den Waldboden aus.
Eine gute Entscheidung, da die Schneedecke dort rauer ist und wir uns an den Ästen festhalten können, bis wir das untere Ende einer vereisten Rampe erreichen. Hier bleibt das »nahezu« von »nahezu spiegelglatt« auf der Strecke. Dem nicht genug, müssen wir einsehen, dass griffige Wanderschuhe wenig nützen, wenn es auf dem Terrain nichts mehr gibt, was sie greifen könnten.
Wer weiter will, hat keine Wahl: er muss sich an der Außenseite des Geländers, neben der Rampe, Stück für Stück mühsam hinauf ziehen. Nachdem ich meine Kamera fest geschultert habe, folge ich Annette bis zu einem Baum am oberen Ende der Rampe. Leider steht der Baum so ungeschickt zwischen dem Geländer und einem Felsen,
dass nur eine schmale Lücke bleibt, durch die man sich hindurchzwängen muss. Leider endet bei dem Baum nicht nur die Rampe, sondern außerdem das Geländer. Und leider gibt es danach auch nichts anderes, an dem man sich weiter hinauf ziehen könnte.
Das einzige, dass ich an dem Fels zu fassen bekomme, ist ein in den Schnee geschriebener Name, dessen vereiste Buchstaben mir zumindest die Idee von einem Halt geben, bevor der Weg wieder flacher wird und ich die letzten Meter zur Plattform unterhalb des Bridalveil Falls gehen kann. Die Plackerei hat sich gelohnt: wo sich sonst unzählige Besucher des Nationalparks drängen, stehe ich völlig alleine. Vor mir stürzt das Wasser in einer Kaskade 188 Meter in die Tiefe, treibt die Gischt über die vereisten Felswände rund um den Wasserfall. Es ist ein herrlicher Anblick!
Als die Bilder im Kasten sind, erscheint Michael auf der Plattform. Er wirkt besorgt. Kein Wunder, denn mit drei Minuten hatte unser Reiseleiter lediglich das Stück bis zur Brücke gemeint. Dass wir uns bei den schwierigen Verhältnissen an den Aufstieg wagen, hätte er sich nicht träumen lassen. Sein Angebot, die Kamera zu tragen, lehne ich jedoch ab. Wenn schon jemand damit stürzt, dann bitte sehr ich selber. Aber wozu das Risiko eingehen? Es ist doch viel witziger, sich am Rand der Plattform auf das Eis zu setzen und den Weg einfach wieder hinunter zu rutschen.
Wieder heile am Bus angekommen, fahren wir weiter zum Camp 4 des Nationalparks. Kurz bevor wir dieses erreichen, passieren wir eine Schneise, durch die wir alle drei Kaskaden des Yosemite Falls sehen können.
Weil im Moment recht gute Lichtverhältnisse herrschen, verschieben wir die geplante (Nach-) Mittagspause und spazieren vom Camp schnurstracks zum Wasserfall.
Wie die Wanderwege beim Bridalveil Falls ist auch der Spazierweg zum Yosemite Wasserfall auf den ersten Metern vereist. Über eine private Versorgungsstraße können wir dies jedoch umgehen, sodass wir sicher zu den besser geräumten, hinteren Abschnitt des Wegs gelangen.
Damit haben wir den Yosemite Falls direkt vor uns. Während die unteren Kaskaden im Schatten liegen,
stürzt das Wasser des Yosemite Creek an den Upper Falls wie ein silberweißer Strahl in die Tiefe. Allein diese obere Kaskade hat eine Fallhöhe von 453 Metern. Zusammen mit den mittleren Kaskaden sowie dem Lower Falls erreicht der Yosemite Falls eine Fallhöhe von 739 Metern. Es ist der höchste Wasserfall von Nordamerika. Für uns ist es einfach ein gigantischer Anblick, der auch die umstehenden Besucher fasziniert.
Am Aussichtspunkt unterhalb des Wasserfalls warnt uns ein Schild: »Steiler Weg voraus. Dieser Abschnitt ist für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich (14 Prozent Steigung)«. Ein weiteres Schild macht uns darauf aufmerksam, dass auf dem nächsten Stück steile und eisige Verhältnisse herrschen.
Im Gegensatz zu dem Weg beim Bridalveil Falls sollte man dies ernst nehmen. Denn durch das viele Sprühwasser des Wasserfalls erwarten den Abenteurer teils meterdicke Eisflächen, die selbst gut ausgerüsteten Bergsteigern Probleme bereiten.
Nachdem wir zurück beim Camp 4 sind, gönnen wir uns eine deftige (Tages-) Suppe. Bald schon zieht es uns aber erneut nach draußen in den Park. Zu schön sind das Wetter und die Landschaft, als dass wir unsere Zeit im Restaurant vertrödeln wollen.
So also finden wir uns Minuten später auf einem Wanderweg, der nach rechts durch den Wald zu einer von Bergen umrahmten,
tief verschneiten Wiese führt. Obwohl nur ein laues Lüftchen weht, schlägt uns eisige Luft ins Gesicht. Gemessen an der Aussicht über die Schneefelder und den ruhig dahin fließenden Merced River sowie zu den nahen Gipfeln der Sierra Nevada ist dies aber ein Preis, den wir gerne zahlen.
Fahrt in den Yosemite Nationalpark mit Stopp beim Tunnel View, Spaziergang über Eis zum Brautschleierwasserfall und Aufnahmen vom Yosemite-Wasserfall.