Wer Reisekataloge mit Angeboten zu Äthiopien durchblättert, wird früher oder später ein Bild mit einem gewaltigen Wasserfall finden. Dabei handelt es sich um die Tisissat-Wasserfälle des Abbais, dem Oberlauf des Blauen Nils. Sie befinden sich 30 km südlich der Stadt Bahir Dar beim Dorf Tis Issat. Der Name stammt aus dem Amharischen und bedeutet »Wasser, das raucht«.
Und das darf man ruhig wörtlich verstehen. Denn in der Regenzeit stürzt der wasserreichere der beiden großen Nil-Quellflüsse bei Tis Issat auf einer Breite von mehr als 400 Metern in das 42 Meter tiefer gelegene Becken. Damit sind die Tisissat-Wasserfälle nach den Victoriafällen des Sambesi an der Grenze von Sambia zu Simbabwe die zweitgrößten Wasserfälle in Afrika.
Aufnahmen der einst spektakulären Wasserfälle des Blauen Nils bei Bahir Dar. Vorführung eines Injera-Backens in der Region Amhara.
Entsprechend hohe Erwartungen werden durch die Bilder geweckt. Auch uns werden Blaue Nilfälle versprochen. Genauso verspricht die Anreise - in unserem Fall zum Teil mit dem Boot - über den oberhalb der Wasserfälle breiten Abbai ein imposantes Naturschauspiel. Von der Anlegestelle der Ausflugsboote sind es zu Fuß 15 Minuten bis an die berühmte Geländestufe.
Spätestens dort sollte dann auch dem Letzten auffallen, dass hier etwas nichts stimmt. Ein breiter Fluss so nah am Abgrund, aber eine nur sehr träge Strömung? Bei unserem Spaziergang zu den Wasserfällen kein Grollen und Donnern von herabstürzenden Wassermassen? Da hat wohl jemand das Wasser abgestellt.
Genauso ist es. Denn die wirkungsvollen Katalogbilder sind allesamt veraltet. Damit blenden die Aufnahmen den Bau des zweiten Tis-Abay-Kraftwerks, zumindest aber die Inbetriebnahme des Tana-Beles-Kraftwerks im Jahr 2010 aus. Durch diese beiden Kraftwerke wird aus dem Abbai soviel Wasser abgeleitet, dass in der Trockenzeit nur noch zehn Prozent der einstigen Wassermenge im Fluss verbleibt. Auch in den anderen Jahreszeiten erreicht der Wasserfall des Blauen Nils bei Weitem nicht mehr die Stärke, die noch auf den alten Aufnahmen dargestellt ist.
Aber sehen wir es positiv: seitdem das Wasser nicht mehr raucht, wird deutlich, mit welcher Kraft das Wasser den Fels ausgehöhlt hat. Dennoch sind wir der Meinung, dass man mit der Leistung der Kraftwerke übers Ziel hinausgeschossen ist. Wir verbringen etwas Zeit mit Fotos machen. Aber das wirklich Besondere hat man den Blauen Nilfällen längst genommen. Wir spazieren umher, haben bald wieder eine Kinderschar um uns versammelt und finden dann zumindest noch eine ganz besondere Brücke.
Neben den Spazierweg ab dem Bootsableger oberhalb des Kraftwerks gibt es noch einen zweiten Weg zu den Wasserfällen des Blauen Nils. Dieser beginnt ein Stück weit flussabwärts beim Parkplatz hinter dem großen Wasserkraftwerk.
Dort überquert man die alte Portugiesische Brücke, bei der sich der Blaue Nil an einer Engstelle tief in schwarzes Lavagestein geschnitten hat. Der Name der Brücke ist Programm: sie wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Portugiesen erbaut.
Jenseits der Steinbrücke führt der Spazierweg durch ein kleines Bauerndorf. Wer ein Mitbringsel vom Nil braucht, findet hier ein paar einfache Souvenirstände. Nachdem das Dorf hinter einem liegt, steigt der Pfad in einer Rechtskurve zu einem Aussichtspunkt mit Sicht auf die Wasserfälle an.
Einen guten Steinwurf weiter führt der Weg über den Alata-Fluss. Die 2011 gespannte Hängebrücke ist dann auch der Grund, warum die meisten Gruppen entweder unseren Weg nehmen oder nur bis zum Aussichtspunkt oberhalb der Mündung vom Alata in den Blauen Nil laufen.
Tatsächlich trauen sich nur wenige Besucher, die luftige Konstruktion zu überqueren. So beobachte ich einen kleinen Jungen, der die Seilbrücke zunächst ganz mutig in Angriff nimmt. Nach nur zehn Schritten aber verlässt ihn der Mut, bevor er sich mit wackligen Beinen zurück ans feste Land rettet. Wir sind von unseren Reisen bereits einige Hängebrücken gewohnt. Tatsächlich steht diese Brücke schon durch den Wind niemals ganz still. Und je schneller man läuft, desto mehr gerät die flexible Konstruktion ins Schwanken.
Nachdem ich mir in den Kopf gesetzt habe, hinein in die Schlucht des Alata zu fotografieren, schaffe ich es dann aber doch bis zur Mitte. Was soll ich sagen? Spätestens, wenn man sich mit der Kamera vorm Auge ein wenig über das Geländer lehnt, greift eine Hand unwillkürlich an die Seile. So bin dann auch ich froh, als die gewünschten Bilder im Kasten sind und ich zurück zu unserer Reisegruppe kehren kann. Welch eine Heldentat!
Wer bei der Portugiesischen Brücke startet, aber wenig Lust auf geschätzte 50 Meter Luft unter sich hat, kann dem Pfad geradeaus bzw. hinunter zu einer Art Furt folgen. Das Wasser reicht dort meistens nur bis ans Knie, sodass man einigermaßen trocken ans gegenüberliegende Ufer kommt. Es sei denn, man verzichtet auf die von mehreren Jungen angebotene Hilfe und rutscht dann auf den glitschigen Steinen im Bachbett aus ...